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Einführendes zur Soziometrie

Das, was im Folgenden als „Soziometrie“ vorge­stellt wird, bezieht sich auf ein Konzept­bündel und darauf basierende Praktiken mit Ursprung in der thera­peutischen Philosophie und Theorie Jacob Levy Morenos. Die Anfänge der Soziometrie liegen in den 1920er und 30er Jahren, als Moreno zuerst in Österreich, dann in den USA (dort in Zusammen­arbeit mit Hellen Hall Jennings) Gruppen­studien betrieb, insbe­sondere mit den Zugehörigen des Flüchtlings­lagers Mittendorf, des Sing Sing-Gefängnisses und der New York Trainig School for Girls, um Veränderungen der Gruppen­struktur in Richtung größerer harmonischer Kohärenz zu erarbeiten. Leitend war hierbei die Annahme, dass jeder Gruppen­zusammenhang nicht nur durch äußere Ordnungen bestimmt wird, sondern wesentlich auch durch eine nicht offen­liegende Struktur von Zu- und Abneigungen untereinander (in Morenos Begrifflichkeit Anziehung und Abstoßung) sowie damit verbundene Wahlen. Diese äußere und innere Ordnung in eine weitest­mögliche Entsprechung zu befördern, war für Moreno ein Ziel, das er als Vision auf die Gesellschaft, ja die Weltbevölkerung insgesamt übertrug. „Die Menschheit ist für ihn“, wie Iris Clemens (2019: S. 425) betont, „eine soziale und organische Einheit, in der Kräfte wirken, die die einzelnen Teile des Ganzen in Beziehung zueinander setzen und verbinden oder trennen. […] Sozio­metrische Forschung bedeutet also, soziale Struktur als Ganzes und in ihren Teilen gleichzeitig zu untersuchen.“ Denn einerseits existieren Individuen niemals als autarke Einzelwesen, sondern sind Teil von sozialen Netz­werken und als solche in ihren Ent­wicklungs­möglich­keiten, ihren Interaktionen und ihrer psychischen Verfassung von der Dynamik ihres Netz­werkes abhängig. Andererseits ist das Netzwerk als Ganzes mit jeder Veränderung auf individueller Ebene von einer Veränderung betroffen. Diese These, die aktuell in den Sozial­wissenschaften deutliche Unterstützung erfährt, wurde von Morenos Forschungs­ergebnissen bestätigt.

Während Moreno noch zwischen Konzepten zur Erforschung von Gruppen­strukturen und -funktionen (Soziodynamik), Theorie und Methoden zur Messung zwischenmenschlicher Beziehungen (Soziometrie) und Konzepten zur Umgestaltung von sozialen Beziehungen (Soziatrie) unterschied, hat sich heute der Sammelbegriff Soziometrie für die Erfassung, Darstellung und theoretische Reflexion der Qualität, Quantität, Struktur und Funktion sozialer Beziehungen durchgesetzt.

Ein zentrales Instrument der Soziometrie ist zwar bis heute der von Moreno entwickelte sozio­metrische Test, mit dem Anziehungen und Abneigungen von Gruppen­mitgliedern bezogen auf konkrete Frage­stellungen erhoben und aufgedeckt werden können. Er hat jedoch angemessene Weiter­ent­wicklungen erfahren, bei denen zugleich Ambivalenz und Indifferenz berücksichtigt wird und die für Gruppen eine geringere emotionale Belastung bedeuten. Denn dass bestimmte Beziehungs­muster verdeckt bleiben, hat innerhalb von Gruppen nicht selten auch eine Schutz­funktion für einzelne Subjekte. Nicht jede Wahl einer Person wird von den Gewählten auch erwidert. Nicht jede erwartete Wahl durch Gruppen­mitglieder entspricht den tatsächlichen Wahl­entscheidungen. Sozio­metrische Tests mit Angabe einer Rangfolge von gewählten oder abgewählten Personen in Bezug auf bestimmte Interaktionen bringen dies in Erscheinung. Sie sollten daher aus­schließlich zum Einsatz kommen, wenn die Auf­arbeitung der mit ihren Auf­deckungen verbundenen emotionalen Kränkungen und sonstigen Folgen gesichert ist und alle Gruppen­mitglieder einem Test zu konkreten Frage­stellungen (wie z.B. „mit wem möchtest du [nicht] ein Wochenende in einer Berghütte verbringen“ oder „mit wem möchtest du [nicht] den nächsten Vortrag vorbereiten“) zugestimmt haben.

Soziometrische Arrangements wie die Aktions­soziometrie beziehen sich meist auf Fragestellungen, in denen als momentanes Abbild Selbstein­schätzungen einander mitgeteilt werden oder Wahlen bestimmter Themen gefordert sind. Sie kommen im Psychodrama in vielfältiger Weise zum Einsatz, klären die Gruppe immer wieder über sich selbst auf, erhöhen ihre Fähigkeit, gemeinsam tragfähige Entscheidungen zu treffen, und die Handlungs­fähigkeit der Einzelnen im Miteinander.

In der Einzelarbeit sind Offen­legungen sozialer Wahlen und Beein­flussungen nur der eigenen Beobachtung und derjenigen einer Vertrauens­person ausgesetzt. Hierfür eignet sich besonders die schon von Moreno entwickelte, mit sehr einfachen Mitteln auskommende Arbeit mit dem sozialen Atom einer Person. Diese wird hierbei aufgefordert im Zentrum eines Blatts Papier sich selbst zu markieren, in einem zunächst näheren, dann weiteren Ring dort herum Markierung für diejenigen Personen einzutragen, mit denen soziale Beziehungen unterhalten werden, mit Abstand zur Mitte entsprechend der empfundenen Nähe zum Selbst. Auch Verstorbene, Haustiere oder Vorbilder ohne persönliche Bekanntschaft können hierbei Beachtung finden. Es kann nach real erlebten ebenso wie nach gewünschten Beziehungen gefragt werden. So ist es möglich, auffällige Beziehungs­muster ins Bewusstsein zu rufen, zu hinterfragen, aus einem Abstand nehmenden Blickwinkel zu betrachten und neue Perspektiven hierauf auszu­probieren. Eine inzwischen besonders in der systemischen Beratung und Therapie zum Standard gehörende Weiter­entwicklung dieser Technik ist die Arbeit mit einem sogenannten Systembrett oder Familienbrett. Ergebnisdarstellung in Form von Soziogrammen visualisieren in ähnlicher Weise wie Konstruktionen des sozialen Atoms die Beziehungs­struktur von Gruppe und finden sowohl in der Organisations­beratung als Klärungshilfe Anwendung als auch in sozial­wissen­schaftlicher Forschung oder Markt­forschung.

Weiter­führenden Informationen zu sozio­metrischen Verfahren in über­sichtlicher Darstellung mit ausführlicher Literatur­angabe finden insbesondere bei von Ameln / Gertmann / Kramer (22009).

Literatur

von Ameln, Falko / Gerstmann, Ruth / Kramer, Josef (22009): „Soziometrie“. In: Dies.: Psychodrama, Wiesbaden, S. 238-262.

Clemens, Iris (2019): „Moreno (1934): Who Shall Survive ?“ In: Holzer, Boris / Stegbauer Christian (Hg.) Schlüsselwerke der Netzwerkforschung, Wiesbaden, S. 425-428.

Moreno, Jacob Levy (41996): Die Grundlagen der Soziometrie. Wege zur Neuordnung der Gesellschaft, Opladen.

Schwehm, Helmut (2009): Soziometrie – Die Methode der Wahl. In: Gunkel Stefan (Hg.): Psychodrama und Soziometrie. Erlebnisorientierte Aktionsmethoden in Psychotherapie und Pädagogik, Wiesbaden.